Während wir eine schöne Küstenwanderung in Wales machen, ruft ein US-amerikanischer Milliardär-Fuzzie am vergangenen Samstag in London quasi zum Sturz der Regierung auf. “Whether you choose violence or not, violence is coming to you. You either fight back or you die. (…) We must have revolutionary government change for that to occur. And that is not ordinary-course-of-business sort of stuff“ brüllt er über 100.000 rechten Demonstranten zu, viele offenbar fundamentalistische Christen, die keine Probleme damit hätten, ihren Glauben mit Gewalt gegen die Insassen der „little boats“ zu verteidigen, vor denen sie so große Angst haben. „The king of kings, lord of lords, Jesus Christ“ ist das erste, was laut BBC-Bericht über die Lautsprecher verbreitet wird. Meine Güte, was gehen mir diese ganzen religiösen Spinner auf die Nerven, besonders in der Variante Staatsreligion. Wir sind das auserwählte Volk!, zum Kotzen. Dabei könnte man von allen Weltreligionen so viel Gutes lernen, Demut zum Beispiel.

Am Wochenende hat sich dann hier in GB nicht nur politisch der Himmel erneut verdunkelt. Wieder Sturm- und Starkregenwarnungen. In all den vergangenen Jahren hatten wir immer Glück mit dem Wetter in Wales, aber in diesem Jahr ist es tageweise etwas deprimierend. Bewundernd sehen wir den Hundebesitzer:innen zu, wie sie in Gummistiefeln und Regenkleidung ihre Vierbeiner Gassi führen. Ab und zu zieht auch ein unerschrockener Brite seine Sachen aus und springt ins Meer – wild swimming ist gerade groß in Mode.
Immer drinnen und nur lesen und essen macht mich etwas rappelig. Ich gehe dem Liebsten mit Ungeduld und Haarspaltereien auf die Nerven. Wir sind ja gute Reisepartner, aber allzu lange sollten wir nicht in geschlossenen Räumen aufeinander hocken. Dann lieber trotzdem raus, Wellen gucken.


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Am Dienstag geht es dann wettermäßig wieder und wir brechen sofort zu einer langen Fahrt an die äußerte Spitze der Llyn-Peninsula auf. Aus den vergangenen Jahren wissen wir, wo wir junge Robben sehen können – und tatsächlich: Auch in diesem Jahr liegen fünf knuddelige Pelzkegel am Strand und heulen gar herzerweichend.


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Der Wind ist allerdings unerträglich. Also gehen wir nur die halbe Runde und fahren dann zum versteckten (windgeschützten) Strandcafé, um uns dort mit einer warmen Mahlzeit zu stärken. Blöderweise fällt mir dann beim Algensammeln das Schlautelefon ins Meer. Es ertrinkt und kann nicht wiederbelebt werden. Ich habe es vor acht oder neun Jahren zusammen mit einer SIM-Karte und Prepaid für ein Jahr für 80 Euro bei Aldi gekauft. Zudem nutze ich es kaum. Der Verlust hält sich also in Grenzen.


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Next stopp ist Beaumaris auf Anglesey. Ein Ort mit einer unangenehm hohen Dichte an teuren Autos und Menschen mit verwöhnten Hunden (Parkplatz 7,50 Pfund!).


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Wir finden neben einer guten Bäckerei auch noch andere Attraktionen: Die örtliche Starenbande (zauberhafte Geräusche!) und den extrem seltenen Black Throated Diver direkt unter dem Pier.


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Und weiter zum nächsten Hafen, wo wir in einem eher unangenehmen Café etwas Warmes zu trinken finden.


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Und obwohl der Wind und der nervige Pisselsregen nicht gerade zu weiteren Aktivitäten einladen, fahren wir noch einen letzten Umweg in die stillgelegte Kupfermine, die uns schon mehrfach begeistert hat. Dort treffen wir auf ein Filmteam, das hier einen retrofuturistischen Streifen für einen Streamingdienst dreht. Das Gelände ist auch ohne die Requisiten filmreif:


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Nach einem weiteren Regentag planen wir die Besichtigung einer Kapelle und einer ehemaligen Schiefermine, regensichere Ziele. Unser Mut wird belohnt, es regnet kaum. Erster Stopp ist die kleine Fischerkapelle St Tanwg, die in den Dünen direkt am Meer liegt. Ihre Fundamente sind aus dem 5. Jahrhundert, es ist eine der ältesten christlichen Stätten in Großbritanien.


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In der Beschreibung heißt es: „It is a place widely acknowledged to be ‘thin’, rooted in the earth but within easy reach of heaven. It is a refuge of solace, simplicity and peace“. Den Begriff „thin“ kann man, glaube ich, nur intuitiv verstehen. Trotz meiner Abneigung gegen organisierten Gottesglauben (s.o.) ist mir unmittelbar begreiflich, dass damit nicht eine Nähe zwischen Himmel und Erde gemeint ist, sondern fast ein Nichts. Man muss nicht viel überwinden, wenn man einmal dort ist.
1996 waren K. und ich schon einmal in der kleinen Kirche. Seitdem denke ich mit großer Zuneigung an diesen Ort. Ich bin sehr dankbar für die Zeit, die wir heute dort verbringen durften.


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Nach einem kleinen Standspaziergang fahren wir zu einer ehemaligen Schiefermine. Dort wird man mit einem (dringend notwendigen) Helm ausgerüstet und kann die weitläufigen Stollen und gigantischen Räume unter Tage selbstständig erkunden. Es gibt schriftliche Erläuterungen und über kleine Lautsprecher die Geräuschkulisse von damals, als ganze Familienverbände (ab 12 Jahre) hier täglich acht Stunden Schiefer aus dem Berg gehauen haben.


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Wir lernen, dass die verschieden großen Schieferstücke schöne Namen haben: small duchess, wide lady, princess etc. Ganz am Ende der Erkundungstour steht man vor einer kleinen, engen Nische, dem Pausenraum der Arbeiter. Über den Lausprecher hört man, wie die Männer sich auf Walisisch unterhalten. Dann singen sie, wie man es oft in den Minen in Wales getan hat. Sofort kommen mir die Tränen. Auch dies hier ein „thin place“.


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Weil es immer noch nicht regnet, parken wir das Auto an der Landstraße und machen uns auf den Weg hoch nach Harlech, einem kleinen Ort an einer riesigen Burg. Die Burg lassen wir links liegen, gönnen uns aber einen Tee und Carrot-Cake.
Wenn man so gar nichts erwartet, sondern eher ziellos mal guckt, ist es besonders schön, wenn ein Ort einen überrascht.


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Wir finden schöne Häuser, unter anderem einen leerstehenden, aber komplett (inklusive Inneneinrichtung) erhaltenen Bekleidungsladen, schöne Cafés und eine Galerie, die uns so herzlich empfängt, dass wir gleich mehrere Tage bleiben wollen. Wir kaufen einen Vogel aus Metall.


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Mal schauen, was die letzten beiden Tage noch an Überraschungen bringen werden. Wir fangen schon mal an, die Koffer zu packen, gesammelte Steine zu sortieren, die Reste im Kühlschrank aufzuessen und seufzend aufs Meer zu schauen. Ab nächster Woche werden wir wieder ohne den Trost der Weite durch den Tag kommen müssen.