small duchess, wide lady

Während wir eine schöne Küstenwanderung in Wales machen, ruft ein US-amerikanischer Milliardär-Fuzzie am vergangenen Samstag in London quasi zum Sturz der Regierung auf. “Whether you choose violence or not, violence is coming to you. You either fight back or you die. (…) We must have revolutionary government change for that to occur. And that is not ordinary-course-of-business sort of stuff“ brüllt er über 100.000 rechten Demonstranten zu, viele offenbar fundamentalistische Christen, die keine Probleme damit hätten, ihren Glauben mit Gewalt gegen die Insassen der „little boats“ zu verteidigen, vor denen sie so große Angst haben. „The king of kings, lord of lords, Jesus Christ“ ist das erste, was laut BBC-Bericht über die Lautsprecher verbreitet wird. Meine Güte, was gehen mir diese ganzen religiösen Spinner auf die Nerven, besonders in der Variante Staatsreligion. Wir sind das auserwählte Volk!, zum Kotzen. Dabei könnte man von allen Weltreligionen so viel Gutes lernen, Demut zum Beispiel.

Am Wochenende hat sich dann hier in GB nicht nur politisch der Himmel erneut verdunkelt. Wieder Sturm- und Starkregenwarnungen. In all den vergangenen Jahren hatten wir immer Glück mit dem Wetter in Wales, aber in diesem Jahr ist es tageweise etwas deprimierend. Bewundernd sehen wir den Hundebesitzer:innen zu, wie sie in Gummistiefeln und Regenkleidung ihre Vierbeiner Gassi führen. Ab und zu zieht auch ein unerschrockener Brite seine Sachen aus und springt ins Meer – wild swimming ist gerade groß in Mode.

Immer drinnen und nur lesen und essen macht mich etwas rappelig. Ich gehe dem Liebsten mit Ungeduld und Haarspaltereien auf die Nerven. Wir sind ja gute Reisepartner, aber allzu lange sollten wir nicht in geschlossenen Räumen aufeinander hocken. Dann lieber trotzdem raus, Wellen gucken.

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Am Dienstag geht es dann wettermäßig wieder und wir brechen sofort zu einer langen Fahrt an die äußerte Spitze der Llyn-Peninsula auf. Aus den vergangenen Jahren wissen wir, wo wir junge Robben sehen können – und tatsächlich: Auch in diesem Jahr liegen fünf knuddelige Pelzkegel am Strand und heulen gar herzerweichend.

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Der Wind ist allerdings unerträglich. Also gehen wir nur die halbe Runde und fahren dann zum versteckten (windgeschützten) Strandcafé, um uns dort mit einer warmen Mahlzeit zu stärken. Blöderweise fällt mir dann beim Algensammeln das Schlautelefon ins Meer. Es ertrinkt und kann nicht wiederbelebt werden. Ich habe es vor acht oder neun Jahren zusammen mit einer SIM-Karte und Prepaid für ein Jahr für 80 Euro bei Aldi gekauft. Zudem nutze ich es kaum. Der Verlust hält sich also in Grenzen.

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Next stopp ist Beaumaris auf Anglesey. Ein Ort mit einer unangenehm hohen Dichte an teuren Autos und Menschen mit verwöhnten Hunden (Parkplatz 7,50 Pfund!).

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Wir finden neben einer guten Bäckerei auch noch andere Attraktionen: Die örtliche Starenbande (zauberhafte Geräusche!) und den extrem seltenen Black Throated Diver direkt unter dem Pier.

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Und weiter zum nächsten Hafen, wo wir in einem eher unangenehmen Café etwas Warmes zu trinken finden.

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Und obwohl der Wind und der nervige Pisselsregen nicht gerade zu weiteren Aktivitäten einladen, fahren wir noch einen letzten Umweg in die stillgelegte Kupfermine, die uns schon mehrfach begeistert hat. Dort treffen wir auf ein Filmteam, das hier einen retrofuturistischen Streifen für einen Streamingdienst dreht. Das Gelände ist auch ohne die Requisiten filmreif:

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Nach einem weiteren Regentag planen wir die Besichtigung einer Kapelle und einer ehemaligen Schiefermine, regensichere Ziele. Unser Mut wird belohnt, es regnet kaum. Erster Stopp ist die kleine Fischerkapelle St Tanwg, die in den Dünen direkt am Meer liegt. Ihre Fundamente sind aus dem 5. Jahrhundert, es ist eine der ältesten christlichen Stätten in Großbritanien.

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In der Beschreibung heißt es: „It is a place widely acknowledged to be ‘thin’, rooted in the earth but within easy reach of heaven. It is a refuge of solace, simplicity and peace“. Den Begriff „thin“ kann man, glaube ich, nur intuitiv verstehen. Trotz meiner Abneigung gegen organisierten Gottesglauben (s.o.) ist mir unmittelbar begreiflich, dass damit nicht eine Nähe zwischen Himmel und Erde gemeint ist, sondern fast ein Nichts. Man muss nicht viel überwinden, wenn man einmal dort ist.

1996 waren K. und ich schon einmal in der kleinen Kirche. Seitdem denke ich mit großer Zuneigung an diesen Ort. Ich bin sehr dankbar für die Zeit, die wir heute dort verbringen durften.

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Nach einem kleinen Standspaziergang fahren wir zu einer ehemaligen Schiefermine. Dort wird man mit einem (dringend notwendigen) Helm ausgerüstet und kann die weitläufigen Stollen und gigantischen Räume unter Tage selbstständig erkunden. Es gibt schriftliche Erläuterungen und über kleine Lautsprecher die Geräuschkulisse von damals, als ganze Familienverbände (ab 12 Jahre) hier täglich acht Stunden Schiefer aus dem Berg gehauen haben.

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Wir lernen, dass die verschieden großen Schieferstücke schöne Namen haben: small duchess, wide lady, princess etc. Ganz am Ende der Erkundungstour steht man vor einer kleinen, engen Nische, dem Pausenraum der Arbeiter. Über den Lausprecher hört man, wie die Männer sich auf Walisisch unterhalten. Dann singen sie, wie man es oft in den Minen in Wales getan hat. Sofort kommen mir die Tränen. Auch dies hier ein „thin place“.

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Weil es immer noch nicht regnet, parken wir das Auto an der Landstraße und machen uns auf den Weg hoch nach Harlech, einem kleinen Ort an einer riesigen Burg. Die Burg lassen wir links liegen, gönnen uns aber einen Tee und Carrot-Cake.

Wenn man so gar nichts erwartet, sondern eher ziellos mal guckt, ist es besonders schön, wenn ein Ort einen überrascht.

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Wir finden schöne Häuser, unter anderem einen leerstehenden, aber komplett (inklusive Inneneinrichtung) erhaltenen Bekleidungsladen, schöne Cafés und eine Galerie, die uns so herzlich empfängt, dass wir gleich mehrere Tage bleiben wollen. Wir kaufen einen Vogel aus Metall.

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Mal schauen, was die letzten beiden Tage noch an Überraschungen bringen werden. Wir fangen schon mal an, die Koffer zu packen, gesammelte Steine zu sortieren, die Reste im Kühlschrank aufzuessen und seufzend aufs Meer zu schauen. Ab nächster Woche werden wir wieder ohne den Trost der Weite durch den Tag kommen müssen.

running with the dog

14. Urlaubstag in Wales. Sonntag. Es regnet. Morgens haben wir es gerade noch rechtzeitig geschafft, Zeitungen zu kaufen. Kuchen ist noch im Haus, dazu ausreichend Tee und coffee house jazz. Für die Nacht gibt es eine offizielle Sturmwarnung, wir machen die Schotten dicht.

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Nach zwei Wochen ohne strukturierenden Alltag falle ich in eine Urlaubsmelancholie. Ich könnte etwas zeichnen, aber… Buch lesen? Hm. Ab und zu dem Liebsten einen Kuss geben. Immer wieder sortiere ich die Algen um, die ich am Stand gesammelt habe und zwischen Zeitungen presse und trockne.

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Gerne würde ich eine Entscheidung treffen, eine Änderung einläuten, ein erreichbares Ziel sehen, auf das ich mich freuen kann. Urlaube sind eine gute Gelegenheit, eingefahrene Routinen zu überdenken, „Ja, warum denn eigentlich nicht?“ zu sagen, Klarheit zu schaffen. Aber es scheint alles so mühevoll. Drechseln würde ich gerne lernen, oder Fechten. Und im Garten die Trockenmauern erneuern. Überhaupt: Den Garten so umgestalten, dass er nicht so wehleidig und bedürftig ist, sondern mit dem schlechten Boden und der Trockenheit besser zurecht kommt. Aber: Wie lange werden wir noch in dem unserem Haus wohnen? Bedingungen ändern, solange man das kann, und nicht muss – ein guter Ratschlag, den ich allen anderen gerne ungefragt gebe. Für lächerliche 1,2 Millionen Pfund kann man sich das schönste Haus der Welt kaufen. Aber wäre man da glücklicher? Und barrierefrei ist es auch nicht. Pfff.

Selten haben mich bisher die Weltereignisse bei persönlichen Zukunftsdingen beeinträchtigt, aber inzwischen überlegt man ja, wo und wie man Verfolgte bei sich verstecken könnte, wie weit man selbst im politischen Widerstand ginge und ob es nicht Zeit wäre, alle Blogtexte zu löschen. Ich bin auf eine sehr erschöpfende Weise ratlos und verwirrt. Wie bescheuert muss man sein, sich heutzutage noch mit dem Bau von Trockenmauern zu befassen? Es ist alles so surreal. Sehr viel besser als ich kann Robin Detje das beschreiben.

In meiner Verzweiflung über die Lage in Gaza und die tatenlose Ruhe allüberall lese ich mehr als mir gut tut. Unter anderem den sehr nüchternen Bericht der BBC „Israel’s war in Gaza and proportionality„: „And Prof Hovell of LSE told the BBC: ‚Proportionality in international law is a pretty blunt tool. In many modern conflicts, applying that standard can be difficult. But in Gaza, the case is, sadly, strikingly clear. Israel’s campaign has been grossly disproportionate.'“ Mut schöpfe ich nur noch aus den regelmäßigen Newslettern von Ärzte ohne Grenzen, Standing Together und Combatants for Peace.

Und natürlich die Tiere. Unser Besuch gestern hat nicht nur mich auf die denkbar beste Art abgelenkt und erheitert. Auch der Liebste hatte viel Freude mit dem Tier.

a bit creepy

Was uns immer wieder in England und Wales auffällt, ist der Wille zur humorvoller Konversation, ernstgenommene Verrücktheiten und ein gewisser Sicherheitswahn (einerseits, andererseits gibt es an todbringend gefährlich hohen Steilklippen ungesicherte Wanderwege wenige Meter vom Abgrund entfernt).
Bei Tesko an der Kasse zieht der Kassierer die Sonntagszeitung The Observer mit den Worten über den Scanner: „I would rename this, it sounds a bit creepy, don’t you think so? Or do you cut two little holes in it und sit with it at the park?“

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Eine in Wales verbreitete Seltsamkeit ist die Liebe zu dampfbetriebenen Schalspurbahnen. Generationen von Männern und Frauen verbringen seit ihren Teenagertagen jede freie Minute in dieser sehr eigenen Welt. So manch einer hat als 12-Jähriger in den Ferien als cleaner oder Helfer in der Teeküche angefangen, hat sich zum fireman auf der Lok hochgearbeitet und ist mit 24 driver geworden. Und weil man dann nie wieder aufhört, kommen 70-jährige Professoren aus London oder auch Deutschland jedes Jahr wieder, ziehen sich den ölverschmierten Overall an und heizen morgens um sechs die Lokomotive ein, die früher den Schiefer zum Hafen und heute die Touristen in die Berge bringt.

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Wir haben das Glück, zwei begehrte Karten für eine geführte Tour durch die workshops der Ffestiniog Railway zu bekommen. Es ist auf eine sehr schöne Art beruhigend und tröstlich, dass vernünftige Menschen ihre Zeit auch sinnvoll verbringen können, ohne den Planeten im Konsum zu ersticken oder sich gegenseitig tot zu schließen.

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Immer wieder erliegt man als Touristin der Versuchung, alles großartig zu finden, auch und vor allem alte, verfallene Gebäude.

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Kopfschüttelnd gehen die Einheimischen an einem vorbei, wenn man in einer komischen Verrenkung vor einem alten Schuppen oder einer baufälligen Kirche kniet und knipst.

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Spätestens wenn man dann in der Stadt mehr oder weniger über die Zelte der Obdachlosen stolpert und kaum einen Schritt tun kann, ohne von wirklich erbärmlich aussehenden Menschen angebettelt zu werden, wird einem klar, wie hoffnungslos arm Nordwales ist. In der Universitätsstadt Bangor ist uns das besonders krass aufgefallen. Noch vor zehn Jahren gab es auf der Highstreet einen Plattenladen, Antiquitätenshops, eine Bäckerei, unabhängige Cafés. Jetzt steht jeder zweite Laden leer, und zwar so heruntergekommen leer, dass man sieht, wie die Bausubstanz verrottet. Dazwischen Nagelstudios, turkish barber, die übliche Systemgastronomie und die charity shops der britischen Krebsgesellschaft (Bild links Universitätsgebäude, rechts Fußgängerzone).

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Außerhalb des heruntergekommenen Stadtkerns an der Einfallstraße etliche schmucklose Gebäude der Uni und Student:innenwohnheime (dreckige Scheiben, zerrissene Gardinen, im Erdgeschoss Müllberge unter den Fenstern). Immerhin finden wir einen gut sortierten Marks & Spencers Laden, in dem wir uns mit allerlei Köstlichkeiten eindecken.

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Next stop: Ein Schloß mit über 300 Zimmern, erbaut vom Sklavenhalter Mister Pennant.

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Etwas erschöpft laufen wir die vielen Treppen hinauf und hinunter, schauen uns die Räume an und essen im Café Coffee & Walnut Kuchen und Scones.

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Neben den original eingerichteten Wohnräumen ist die riesige Küche im Erdgeschoss ein Erlebnis. Und natürlich der Garten. Aber dafür haben wir kaum mehr Energie und fahren nach Hause.

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Die Autofahrerei ist übrigens in diesem Jahr eine Qual ohne Ende. Nicht wegen der „falschen Straßenseite“, auf der man fährt, oder wegen der anderen Verkehrsteilnehmer, nein, das größte Ärgernis ist das Auto selbst. Europcar hat uns ungefragt ein Upgrade angedreht, einen monstergroßen Opel Mokka. Das Geschoss ist übermotorisiert, viel zu groß und voller Technik, die einen in den Wahnsinn treibt. Durch die Fenster sieht man kaum etwas von der Außenwelt, die einem stattdessen über einen Bildschirm vermittelt wird. In verschiedenen Tönen piept und tuckert und fiepst das Auto ununterbrochen. Jedes Verkehrsschild wird mit einem Ton gemeldet, jede Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit, jede kleinste Abweichung von der Fahrbahn. Es ist uns bisher nicht gelungen, auch nur einen Warnton auszustellen. Zum Einstellen der Lüftung muss man sich durch 25 Untermenüs klicken etc. Grauenhaft.

Und wo wir gerade bei Ärgernissen sind: Seit letztem Jahr hat die Royal Mail das Porto für Postkarten nach Deutschland zweimal erhöht. Kostet inzwischen 3,10 Pfund (~ 4 Euro). So einen Quatsch mache ich nicht mit.

So, jetzt ausruhen und aufs Meer schauen. Morgen bekommen wir Besuch (mit Hund!).

home again

Es ist alles noch da: Der Blick aus dem Fenster, die Robbe, die sich bei Ebbe rechts an der Flussmündung auf einem Stein sonnt,

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die sagenhaften Ausblicke auf die Berge,

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und alle fünf Minuten ein anderes Meer. Criccieth, Northwales, ist uns seit 2002 eine kleine Heimat geworden.

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Gestern haben wir P. besucht, die damals bei unserem ersten Besuch unsere Gastgeberin war (inzwischen hat ihre Tochter übernommen). Wir hatten uns damals von der Touristeninformation eine Liste von Ferienwohnungen schicken lassen. P.s hatte eine Faxnummer, und weil wir uns nicht getraut haben, auf Englisch anzurufen, haben wir ein Fax geschickt. Seitdem kommen wir fast jeden Jahr wieder.

Weil wir im letzten Jahr Snowdon, den höchsten Berg der Region, mit etwas schlechtem Gewissen mit der Bahn „bezwungen“ haben, ziehen wir gleich am zweiten Tag zu Fuß los.

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Bis zum halfway house schaffen wir es. Die Weg sind steinig und steil, aber die aussicht großartig.

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Danach schauen wir uns das Museum im ehemaligen Krankenhaus der Schiefermiene an. Schon vor mehr als hundert Jahren gab es hier für die Arbeiter so etwas wie eine Krankenversicherung und kostenlose Behandlung mit erst erholsamer Aussicht auf einen See und die Berge. Die Bettwäsche musste allerdings von den Angehörigen gewechselt werden und fluchen war per Hausordnung verboten.

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Manchester in eineinhalb Tagen

„Looks like fucking Manchester“
(Mark E Smith bei einem Konzert von The Fall in Leipzig in den 80er Jahren)

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Nun, Mark E Smith, verehrter Musiker und Hohepriester der Übellaunigkeit, ist lange gone and forgotten. Andere Manchester-Helden werden mit entsprechenden Angeboten beim Friseur hofiert.

Bevor wir unseren Erholungsurlaub in Nordwales antreten, haben wir zwei Übernachtungen im Flughafenhotel Manchester gebucht, um uns ein wenig in der Stadt umzuschauen. Ich will ja im Urlaub immer etwas Neues erleben, während K. gerne „alle schönen Dinge nochmal“ macht. Vor dem Flug und der Stadterkundung muss mal wieder ein unglaubliches Organisationschaos am Düsseldorfer Flughafen überstanden werden (man muss dort sein Gepäck neuerdings selbst einchecken), dann 50 Minuten Wartezeit auf dem Flugfeld wegen trödeliger Mitreisender (Startslot verpasst) und in Manchester ist dann K.s Koffer verschwunden. Wie jedes Jahr stehe ich laut fluchend im Flughafengebäude und rufe „NIE wieder!“.

Schon zuhause hatte der Liebste sich stundenlang mit dem Tarifsystem des ÖPNV Manchester befasst, was aber nichts nutzt, weil die drei verschiedenen Ticketautomaten von sieben oder acht verschiedenen Bahn-, Bus- und Straßenbahngesellschaften die von K. schon vorab ausgesuchten Tagestickets nicht anbieten. Eine freundliche Dame von einer der Bahngesellschaften (zu K.: „Come this way, sweetheart“) lotst uns durch Absperrungen und verkauft uns eine Fahrkarte, die sie an einem verschmierten kleinen Tisch auf einem Minidrucker ausdruckt.

Die Stadt zeigt sich in einer rohen Großartigkeit, die z.B. Brüssel in den letzten 20 Jahren verloren hat. Viele, viele gigantische historische Gebäude, breite Straßen und sehr düstere back alleys, in denen sich Bierfässer, Müll und Dreck stapeln, Kanäle, Hochstraßen, Eisenbahnbrücken und alte Lagerhäuser.

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Zwischen der alten Blockbebauung brutalistische Betonklötze mit Werbung, und Inseln von widerständigen Pubs zwischen verspiegelten Hochhäusern.

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Ein fantastisch renoviertes Haus der ehemaligen Manchester & Salford Street Children Mission, wenige Meter entfernt von den Zelten der Obdachlosen.

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Wie sehr hier das Geld fehlt, sieht man an etlichen Gebäuden, die unten von greasy spoon café oder Nagelstudios verschandelt sind, während die oberen Stockwerke leer stehen.

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Wir haben große Freude daran, mit dem Doppeldeckerbus herumzufahren und zu gucken.

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Ich erinnere mich nicht daran, schon mal in einer ähnlichen Stadt gewesen zu sein. Meine Erinnerungen an Bradford und Leeds in den 90ern sind sehr verblasst, das kommt aber wahrscheinlich eher hin als London.

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Nach endloser Herumrennerei am ersten Nachmittag (wir sind ja erst um drei Uhr gelandet und mussten noch den verlorenen Koffer melden…), haben wir dann ein Restaurant angesteuert, das im Reiseführer sehr empfohlen wurde. Man solle sich nicht von der dunklen, unheimlichen back alley und der sehr einfachen Einrichtung abschrecken lassen – das „This & That“ sei eine Institution und serviere seit 1984 hervorragende Currygerichte. Unser Fazit: Eine Gaststätte nach unserem Geschmack! An einer kantinenartigen Theke bekommt man einen Teller Reis und kann dann aus vier Currys mit Fleisch und vier vegetarischen Currys drei auswählen. Dazu gibt es frische Kräuter, Nan-Brot und Getränke aus dem Kühlschrank. Für 7 Pfund pro Person. Man sitzt an langen Gemeinschaftstischen, zusammen mit Musikern, Handwerkern und Männern mit Aktentaschen. Die Currys waren so unglaublich lecker, dass wir gleich am nächsten Tag wiedergekommen sind. Hier ein kleiner Film, in dem der Eigentümer und Koch die Geschichte des This & That erzählt.

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Nach einer ruhigen Nacht (allerdings immer mal wieder durchbrochen von der Sorge um den weiterhin verschwundenen Koffer) setzen wir unsere Stadterkundung am nächsten Tag fort (insgesamt elf Stunden ohne größere Pausen…). Das Plakat rechts verweist auf Marina Abramovićs Balkan Erotic EpicPerformence, die im Oktober in Manchester startet (für jemand mit einer konstanten Angst vor Kontrollverlust sicher eine interessante Herausforderung).

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Unser erstes Tagesziel ist dann leider dienstags geschlossen: Castlefield Viaduct Garden, ein viktorianische Bahnüberführung, die in einen Garten verwandelt wurde. Wir sind sehr enttäuscht, die Tierwelt bietet Trost.

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Zwischendurch finden wir auch das Studio von Viktoria Glover, deren Buch uns dazu animiert hat, demnächst einmal Cyanotypie auszuprobieren. Sie ist ganz gerührt, als wir erzählen, dass wir aus Deutschland den Weg zu ihr gefunden haben, und fachsimpelt mit mir über verschiedene Blautöne.

Nächster Stopp ist das Naturhistorische Museum (European Museum of the Year 2025), in dem der Liebste es aushalten muss, dass ich alle paar Minuten vor Begeisterung quieke.

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Wir schaffen natürlich nur einen Bruchteil der vielen Ausstellungen, sind aber über alle Maßen begeistert.

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K. ist noch Tage später untröstlich, dass wir die Dinosaurier verpasst haben, ich finde ausgestopften Tiere besser als alte Knochen.

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Während die neuen, hippen Gastro-Markthallen uns fürs Essen zu voll waren, fanden wir die Straßen auffallend leer. Bis uns klar wurde, dass etliche Straßen tatsächlich tagsüber für Autos komplett gesperrt sind! Eine effektvolle Maßnahme, die gar keine Umbauten erfordert.

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Das nächste Museum verspricht Turner („He paints in colour, but he thinks in light and shade“) und eine tolle Cafeteria aus Glas. Die Turner-Ausstellung ist sehr kleinformatig und akademisch aufbereitet, in der Cafeteria sind alle Plätze besetzt. Wir finden aber einen sehr hellen Raum, der offensichtlich nur zum Ausruhen gedacht ist.

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Apropos Ausruhen: In jedem Museum gab es einen sogenannten Quiet Space, einen schallgeschützen Raum für Menschen, denen alles schnell zu viel wird. Ich habe es ausprobiert und mich bei gedämpftem Licht auf einem bequemen Sofa in glückvoller Stille ausgeruht. Durch ein entsprechendes Schild konnte ich den Raum für mich alleine nutzen. Mich hat das sehr gerührt – nicht nur, dass es solche Räume gibt, sondern vor allem, dass ein Bewusstsein dafür da ist, wie sehr manche Menschen so etwas brauchen.


Als wir schon gehen wollen, verirren wir uns in eine andere Ausstellung. Es werden großformatige, mit Farbe und Textilien hergestellte Bilder der roma-polnischen Künstlerin Małgorzata Mirga-Tas gezeigt. Wir sind beide begeistert und schauen uns die Bilder lange an.

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Weil wir sowieso gerade in der Gegend waren, werfen wir dann auch noch einen kurzen Blick in die Universitätsgebäude.

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Und dann schnell noch rice and three in unserem Stammlokal, bevor wir ins Hotel zurückkehren, wo nach einigem Hin und Her dann tatsächlich auch der verlorene Koffer wieder auftaucht.

Hühner, Schwalben, Siebenschläfer, und das Brillenproblem gelöst

The whole world is filled with speculation
The whole wide world which people say is round
They will tear your mind away from contemplation
They will jump on your misfortune when you’re down
(Bob Dylan: Ain’t Talkin’)

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Gestern das erste Mal tatsächlich zu heiß draußen. 34 Grad. Zum Glück ist es im Haus noch angenehm. Frühstückskaffee aber trotzdem auf der Terrasse. Und abends in der Dämmerung auf dem kühlen Gras liegen.

An einem Abend sehen K. und ich plötzlich einen Igel herumlaufen. Es ist noch hell, sofort machen wir uns Sorgen. Ist er verletzt? Ich ziehe schnell Handschuhe an, nehme das junge, mittelgroße Tier hoch, es zischt und rollt sich halb zusammen, ich sehe keine Verletzungen, die Stacheln in Ordnung, keine Zecken, dann rollt der Igel sich ganz ein, ich setze ihn ab und nach zwei Minuten geht er seines Weges. Wir haben fünf Wasserstellen im Garten. Hoffentlich hilft es ihm etwas. Und den Vögeln.

Die Brillenfrage ist geklärt. Die von Fielmann zugeschickten Probemodell waren alle nichts. Ohne viel Enthusiasmus klicke ich im Internet herum und finde eine Fassung, die mir gefällt. Das Händlerverzeichnis der Firma listet keinen Optiker in den nahegelegenen Großstädten auf, aber einen in einem kleinen Nachbarort. Fahre ich sofort hin. Eine Oase der Modernität und Freundlichkeit neben Kik, Sparkasse und Nagelstudio. Eine in Gold und Pastelltöne gekleidete Elfe Optikerin freut sich, dass sie das von mir gewünschte Modell vorrätig hat. Wir sehen aber beide sofort, dass es zu groß ist. „Moment“, sagt sie. Und sucht und kehrt zurück mit meiner Brille. Sie nimmt sich dann noch 1 1/2 Stunden Zeit für einen Sehtest und die notwendigen Vermessungen (Werte schlechter, wie der ganze Körper, der seit zwei Jahren rapide abbaut). Sogar das „Blau-Problem“ der Entspiegelung wird gelöst. Und es wird teuer. Aber ich fühle mich hervorragend beraten und verlasse den Laden glücklicher, als ich ihn betreten habe.

Auch beim jährlichen Kontrolltermin beim Frauenarzt gibt es einen glückvollen Moment. Wir reden darüber, wie schwer die Welt derzeit zu ertragen ist, er fängt zaghaft mit Trump an, wir regen uns gemeinsam über den rapiden Sozialabbau bei uns auf, und landen dann bei Gaza / Israel. Während er meinen Oberkörper ultraschallt, deute ich meine Position an, er hält inne und sagt: „Meine Familie, wir haben viele Verwandte in Israel. Der 7. Oktober war furchtbar. Aber das, was Netanjahu macht, das ist so falsch, das sprengt jede Vorstellung. Und alle unsere Freunde in Israel denken so. Wir sind voller Sorge“. Wir reden noch ein wenig und verabschieden uns herzlich.

Vom Arzt aus noch schnell zum Eierhäuschen, Eier kaufen und die gefiederte Belegschaft mit Haferkörnern erfreuen (wie erfreuen uns gegenseitig).

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Nach einem dienstlichen Außentermin einen langen Umweg zum Bäcker gefahren. Also zu einer der wenigen Bäckereien, die in unserer Gegend überhaupt noch Brot herstellt, und nicht nur vorgefertigte Teigstücke aufbackt. Dort Roggenbrot, Kirschstreusel und ein Onjeschwedde gekauft. Das „Ungeschwitzte“ ist ein leicht süßes Mischbrot mit Korinthen und Anis. Es wird im Hochsommer nach der Ernte aus dem Mehl von frisch geerntetem, noch feuchtem Roggen gebacken und ist lediglich für einen Zeitraum von fünf bis sechs Wochen erhältlich. Die uralte Spezialität wird meines Wissen nur noch in dieser einen Bäckerei hergestellt. Eine unglaubliche Köstlichkeit.

Eine andere lokal sehr verankerte Spezialität sind Schützenvereine. Dort werden im vorauseilenden Gehorsam schon mal die Kindersoldaten Kleinsten an der Waffe ausgebildet. In der Lokalpresse ist zu lesen: „Die St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft hat das erste Lasergewehr für Kinder unter zwölf Jahren anschaffen. Sobald man über die Brüstung der Schießanlage schauen kann – also etwa ab sechs Jahren –, dürfen die Kinder hier schießen lernen. Die Kinder lernen dabei, sich zu konzentrieren, betont der aktuelle Schützenkönig. ‚Es macht einfach Spaß zu schießen‘, sagt der elfjährige Theo. Geschossen wird abwechselnd zu zweit, während die anderen Kinder der Gruppe Fahnenschwenken üben“.

All dieser Irrsinn macht mir manchmal das Herz schwer. Ich werde diesen Sorgenkloß nicht mehr los. Aber es ist alles nur Einbildung. Der Kloß ist nicht schwer. Wenn ich im See schwimme, wie heute, gehe ich nicht unter. Im Gegenteil. Ich bin die einzige Schwimmerin im kleinen Stausee im Wald. Ich rudere mit den Armen und lasse die Beine im tiefen Wasser baumeln, das oben warm und unten ganz eisekalt ist. Um mich herum 30 bis 40 Schwalben, die laut rufend dicht über dem See fliegen und immer wieder mit dem Schnabel die Wasseroberfläche anreißen, um einen Schluck zu trinken. Und alles ist gut.

Und wenn es dann trotz Schwalben nicht gut ist, dann gehen Sie zur Siebenschläfern-Webcam. Heute Morgen ist der zweite Wurf zur Welt gekommen.

Antwerpen

Wie bekomme ich das Antwerpenwochenende jetzt am schnellsten in einen Blogeintrag? Puh.

Es ist eine wirklich sehr sympathische Stadt, besonders im Sommer. Die letzten Jahre haben wir jeweils Tagesausflüge gemacht, diesmal hatten wir für zwei Übernachtungen eine Ferienwohnung gemietet, einigermaßen ruhig, aber dann doch zwischendurch die üblichen Kinderhorden, Fernsehlärm über uns, laute Gespräche auf der Straße. Trotzdem ist es schön, in einem ganz normalen Viertel, in einem ganz normalen Mietshaus zu wohnen, statt im Hotel in der Innenstadt. Interessant zu sehen, wie konsequent auch ärmere Viertel verkehrsberuhigt und begrünt werden.

Ermutigt von den Katzen des Viertels haben wir die Stadt zu Fuß und mit der Straßenbahn erkundet.

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Städte an einem Fluss haben sowieso schon gewonnen, Hafenstädte wie Liverpool oder Antwerpen gewinnen zusätzlich noch mehr Weite und Weltläufigkeit.

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Wie in vielen belgischen Städten wird in Antwerpen das architektonische Erbe nicht überall geschätzt – es gibt einfach zu viele Jugendstilhäuser, viele schimmeln vor sich hin, sind in Kleinstwohnungen unterteilt oder werden für Neubauten abgerissen. Einige Neubauten lassen wir aber durchgehen, das tolle Kid37-Streifenhaus zum Beispiel.

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Das Durcheinander von neu und alt hat bei K. und mir schon das Adjektiv „belgös“ entstehen lassen.

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Und wenn ich Zeit und Geld für unnütze Dinge hätte, würde ich ein Coffeetablebook mit Fotos von all den Kleinigkeiten machen, die man an und in den Häusern entdecken kann. An einer ehemaligen Apotheke:

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Hinweisschilder auf das, was einen im Haus erwartet:

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Großartige Geschäfte überall (ich habe mich sehr diszipliniert, keinen ausgestopften Fuchs zu kaufen, und den besten Laden, mit dem ich extra vorher wegen der Öffnungszeiten in Kontakt betreten bin, haben wir nicht mehr in den Tag hinein gequetscht bekommen…).

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In unmittelbarer Nähe „Grey – Vinyl Treasures“ und eine Galerie, die ein Foto von Iggy UND seine zerdepperte Gitarre verkauft. Leider, leider gibt es unser Lieblingscafé „Coffee and Vinyl“ nicht mehr.

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Wobei an Cafés und Kuchen kein Mangel herrscht.

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Sehr belgös auch der Laden des Modedesigners Dries van Noten. Untergebracht in einem der prächtigsten Eckgebäude der Stadt, findet sich direkt daneben ein Second Hand Laden, der seine Klamotten kiloweise verkauft. In Düsseldorf wäre das undenkbar.

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Auch im Bereich Kundenfreundlichkeit kann man nicht meckern. An einem Antiquitätengeschäft mitten in der Altstadt findet man einen handgeschriebenen Zettel: „Wenn du etwas bei uns kaufen willst, tue ein Zettelchen mit deiner Nummer in unseren Briefkasten. Wir rufen dich so schnell wie möglich zurück. Vielen Dank“. Und inmitten der größten Geschäftigkeit ist immer ein Platz zum Ausruhen.

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Auf Schritt und Tritt stolpert man über die schillernsten Figuren (die Sammlung der Heiligen im Schaufenster einer Kneipe).

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An der großen Kathedrale ein geradezu rührendes Bild des Baumeisters und eine drastische Darstellung dessen, was einen in der Hölle erwartet (nicht laute Bummbumm-Musik und Polittalkshows, sondern fehlende Bekleidung und Schlangen!).

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Besichtigt haben wir den Nottebohm Lesesaal mit seinen 150.000 alten Büchern.

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Und wir konnten durch einen glücklichen Zufall an einer sagenhaften Baustellenführung teilnehmen. Der Burentoeren, in den 30er Jahren das größte Hochhaus in Europa, damals eine Bank mit modernen Apartments, wird derzeit von einer geldschweren Stiftung zum „Kunst-Wohnzimmer“ Antwerpens umgebaut. Damit sich die Bürger:innen schon mal freuen können, auf das, was sie ab Ende 2028 erwartet, werden sie in kleinen Gruppen mit Helm, Handschuhen und Warnweste ausgestattet durch die komplette Baustelle geführt.

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Auf den Zwischenebenen gibt es immer wieder Erklärungen mit Videos und alten Fotos. Dass man hier eher klotzt statt kleckert, sieht man daran, dass Herr Liebeskind das Projekt leitet (in einem Video erläutert er gut gelaunt seine Pläne). Für die gläserne Aussichtsplattform ungefähr in der Mitte hat man auch schon ein über sechs Meter großes Dinosaurierskelett für fünf Millionen Euro gekauft.

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Die Aussicht ist jedenfalls sagenhaft. Ganz, ganz oben wird es einen Dachgarten geben. Auf jeden Fall werden wir uns das Gebäude nach der Fertigstellung anschauen – und dann sagen können: Hier haben wir schon zwischen den rohen Stahlträgern gestanden!

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Sonntags zum Ausklang waren wir dann noch im Skulpturenpark Middelheim, einer netten Mischung aus Garten und Kunstsammlung, über einer unterirdischen Autobahn (im Rasen sind große Lüftungslöcher, durch die man die Autos hört).

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Da waren wir aber schon so erschöpft, dass wir nur noch entspannende Kunstwerke wie Wasserspiele und dicke Hunde anschauen konnten.

Ausflüge

Oft ist die Versuchung groß, einen freien Tag mit Hausarbeiten, Herumklickereien im Internetz und kleineren Einkäufen zu vertrödeln. Wenn Herr K. und ich uns aber aufraffen und losfahren, sind wir immer überrascht, was für großartige Erlebnisse wir nach Hause tragen.

Zum Beispiel eine Radtour über eine ehemalige Bahnstrecke von der belgischen Grenze bis nach Malmedy.

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Unterwegs fragen wir uns, warum uns früher Blumen und Tiere eher gleichgültig waren. Sieht man das erst später im Leben, Schmetterlinge, Blumen, Jahreszeiten, den Trost, der in all dem steckt?

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In Belgien kommen zu den tröstlichen Pflanzen und Tieren auch noch andere Überraschungen am Wegesrand: Wunderbare kleine Gartencafés und ungeahnte landestypische Spezialitäten.

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Und natürlich DIE landestypische Spezialität schlechthin:

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Am Wochenende davor waren wir an der Mosel – eine, wie ich finde, völlig unterschätzte Kulturlandschaft. Während selbst mittelgroße Städte es nicht mehr schaffen, die Kulturtechnik des Brotbackens am Leben zu halten, hat hier noch jeder Zweite seinen alten Traktor im Hof, um damit die Weinberge der Familie zu bewirtschaften. Wobei man den persönlichen Eindruck nicht überromantisieren sollte: Der alte Winzer, bei dem wir jedes Jahr kistenweise einen vorzüglichen Grauburgunder kaufen, rechnet damit, dass in seinem Ort von einst 120 Winzern (aktuell zwölf) in zehn Jahren noch drei übrig sein werden. That’s the way the cookie crumbles…

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Es ist aber erstaunlich und rührend, wie viele alte Handwerke im Schatten des Weinanbaus Bestand haben. Herr Schneider zum Beispiel bietet unter anderem „Weinbergpfähle, Zaunpfähle und Bohnenstangen“, auf dem Hof liegen die jeweils unterschiedlich dicken und langen Hölzer sauber gestapelt. Wer etwas braucht, soll anrufen. Herr Schneider kommt sofort.

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Die Dörfer, durch die wir fahren, haben viele charmante Kleinigkeiten zu bieten.

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Und wenn man das nötige Geld hätte, um ein altes Haus zu restaurieren, wäre ein Moseldorf sicher nicht der schlechteste Ort dafür.

ein sagenhaft gutes Himbeer- und Brombeerjahr

Der Sommer entwickelt sich zu meiner Zufriedenheit. Es ist nicht zu warm, es regnet zwischendurch tüchtig, die Chaosnachbarn benehmen sich. Noch erfreulicher wäre es, wenn ich die Müße hätte, mich mal für einen ganzen langen Nachmittag in den Garten zu setzen und nichts zu tun. Gelingt mir nicht. Wenigstens versuche ich meine Unruhe in sinnvolle Dinge zu kanalisieren. Es ist ein sagenhaft gutes Himbeer- und Brombeerjahr!

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Meine Mutter hat mir den inneren Drang, gute Dinge für schlechte Zeiten einzumachen, zweifelsfrei vererbt (wenn es im Radio eine Durchsage gab „Bahnlinie XY wegen Brombeerpflückern aktuell gesperrt“ riefen wir Kinder „Das ist sicher Mutti!“). Nicht nur Beeren sind mir in die Finger gekommen, sondern auch wirklich gute Tomaten.

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Ich kann mich an den Vorräten von Tomatensauce und Marmelade sehr erfreuen – wobei ich selbst fast gar keine Marmelade esse.

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In dem Zusammenhang fällt mir ein schöner Traum ein, den ich vor ein paar Tagen hatte: Ich war bei Herrn und Frau Kaltmamsell zu Besuch, die sich ja beide auch viel mit Kochen und Essen beschäftigen. Zu meiner Überraschung und Freude hatten sie in ihrer Münchener Wohnung ein großes Schwein, das mich freundlich angrunzte und sich streicheln ließ. Die beiden berichteten, dass das Schwein aus kulinarischen Gründen angeschafft wurde, wobei sie nicht sicher wären, ob sie den Plan wirklich zu Ende bringen könnten.

Seufzend lachen musste ich heute Morgen über einen Bericht in einem anderen Blog: Herr Fischer und seine Frau fuhren einen weiten Weg in ein Fachgeschäft. Ihnen ging es ähnlich wie mir. Nachdem ich meine letzte Brille bei Fielmann gekauft hatte, wollte ich vor ein paar Tagen mal nach etwas Vernünftigem in einem unabhängigen Fachgeschaft schauen. Und mich natürlich beraten lassen. Long story short: Man zeigte mir mit einem wortkargen Desinteresse an meinen Wünschen ein paar Brillengestelle, mit dem Hinweis, dass meine Vorstellungen gerade nicht modern seien. Ich habe mich dann schnell wieder verabschiedet und bin zu Fielmann gegangen. Dort hat eine freundliche Frau sich erstmal um meine aktuelle Brille gekümmert, die Kratzer darauf angeschaut und gesagt, dass so etwas nach nur drei Jahren Tragezeit nicht akzeptabel sei. Sie sähe hier eher keinen fehlerhaften Gebrauch, sondern eine durch leichte Wimpenberührung abblätternde Entspiegelung. Beide Gläser werden auf Kosten der Firma ausgetauscht (745 Euro, die ich nicht zahlen muss). Was eine mögliche neue Brille angeht, werden mir nun fünf Gestelle nach Hause geschickt, die ich mir aus über 3000 möglichen im Internet ausgesucht habe. Wenn mir eins davon gefällt, wirds die neue Brille, wenn nicht, dann nicht.

Und als sei gerade die Woche der Kundenfreundlichkeit, bin ich auch bei einer Reklamation bei Tchibo erfolgreich. Ein dort gekauftes Sporthandtuch hatte in der Waschmaschine stark abgefärbt. Nach etwas Hin und Her mit dem Kundenservice haben wir einen großzügigen Gutschein als Ausgleich für unseren Ärger bekommen. Geht doch.

Kinder

Down on Cyprus Avenue
With a childlike vision slipping into view
The click and clacking of the high-heeled shoe
Ford and Fitzroy, and Madame George

(Van Morrison: Madame George, am besten in der Version von
Marianne Faithfull, live at Montreux Jazz Festival 1995)

Mein Bruder A. schickt mir Fotos vom neugeborenen Großneffen, er, der Opa, hat das kleine Menschlein auf dem Bauch liegen, vorsichtig hält er mit der einen Hand die kleinen Füße, mit der anderen die zarten Schultern, der Kleine schläft, der Bruder ist sehr glücklich. Mein anderer Bruder ruft an und berichtet von einem großen Unglück, ein junger Mann hat sich das Leben genommen, jemand, den sie gut kannten, mit 27 Jahren. Diese Gleichzeitigkeit auszuhalten, das fällt immer schwerer.

Wenige Tages später, das Kind ist noch keine Woche alt, wird es mir von seinem Vater in die Arme gelegt. Es ist das erste Mal, dass ich ein so kleines Kind halte. Eine sehr seltsame Mischung aus Verunsicherung und herzlicher Konzentration erfüllt mich. Das Kind bewegt sich überraschend viel, geradezu mit allen Körperteilen gleichzeitig. Es macht missmutige Geräusche, und einmal öffnet es ein Auge und schaut mich an. Seine Haut schält sich vom Körper, es häutet sich wie eine Schlange. Die Mutter sagt, das sein normal, die Innenhaut werde abgeworfen, eine neue Außenhaut entstehe. Ich mache, was ich tausendmal bei anderen gesehen habe, ich bewege meine Arme leicht hin und her, daraufhin wird das Kind ruhiger und schläft schließlich ein. Alle am Tisch essen Kuchen und schauen mich gerührt an. Ich sage dem schlafenden Kind, dass es großes Glück hat, in dieser Familie gelandet zu sein, woraufhin es wieder aufwacht und einen meiner Finger ergreift. Dann verliert es alle Körperspannung, seufzt und wird schlafend doppelt so schwer. Der Vater legt es vorsichtig in eine Art Hundekörbchen („Nest“), aktuell wohl die beliebteste Art der Babyaufbewahrung.

Ich erzähle der Kaffeetafel von meinen Erinnerungen an die Geburt der Mutter des kleinen Großneffen vor 30 Jahren, die für meine Eltern das erste Enkelkind war. Wie gerührt mein Vater beim Anblick des Säuglings war, seinen Arm um mich legte und sagte: „Kannst du dir nicht vorstellen, mal so ein Engelchen im Arm zu haben?“. Dass ich keine Kinder wollte, haben meine Eltern ignoriert, weil sie es nicht akzeptieren konnten und weder den Mut noch das Interesse hatten, mich dazu zu befragen. Die Antwort hätte ihnen vermutlich auch nicht gefallen. Abgesehen davon, dass ich nie diese (wahrscheinlich hormonell bedingte) „Oh-wie-süüüüß-ein-Baby“-Phase hatte, hat mir vor allem ein positives role model als Mutter gefehlt. Mutter-sein war für mich immer: aufopfern, von morgens bis abends für die Familie da sein, kein eigenes Leben haben, und mit aller Kraft dafür sorgen, die Kinder nach seinem eigenen Bild zurecht zu biegen, bzw. in ein Familienbild zu zwängen. Dass Kinder, auch kleine, eigene Persönlichkeiten sind, denen man als Eltern mit wohlwollender Unterstützung dazu verhilft, einen glückvollen Platz in der Welt zu finden, der ihren eigenen Interessen und Möglichkeiten entspricht, dass war meinen Eltern fremd. Ein kleines Beispiel verdeutlich das vielleicht: Meinem Vater war es suspekt, dass ich gerne zur Schule gegangen bin und dort Spaß hatte. Es fehlte ihm die Autorität dort. Er hätte es lieber gesehen, wenn wir etwas Angst vor den Lehrern gehabt und trotzdem gute Noten nach Hause gebracht hätten. Genauso, wie er es völlig absurd fand, die tägliche Erwerbsarbeit gerne zu tun. Er hat Jahrzehnte an seiner Arbeitsstelle gelitten und wäre nie auf die Idee gekommen, daran etwas zu ändern.

Naja, die Kinderfrage hat sich dann irgendwann von selbst erledigt, und ich leider nicht darunter. Im Gegenteil. Es bleibt einem auch einiges erspart.